Mittwoch, 14. Dezember 2016

Adventskalender: Mittwoch, der 14.12.2016



Das Flugticket  
von Manfred Kolb
                          
Jens Ravenhorst hatte sich gerade in einem Sessel der Hotel-Lounge nieder gelassen und sich in die Tagezeitung vertieft, als er angesprochen wurde.
„Ist der Platz neben Ihnen noch frei?“
Jens ließ die Zeitung sinken und sah auf. Vor ihm stand eine junge Dame im grauen Hosenanzug, mit dunklem Haar und ebenso dunklen Augen und  lächelte ihn an.
„Aber ja, natürlich“, antwortete er, „nehmen Sie ruhig Platz.
Als er sich wieder in seine Lektüre vertiefen wollte, hörte er sie mit einer angenehm warmen Stimme sagen:
„heute ist Heilig Abend. Viele Menschen haben die Bedeutung dieses Abends längst vergessen. Für sie ist Weihnachten nur ein Schenkfest geworden“.
Jens Ravenhorst ließ die Zeitung wieder sinken. „Was sagten Sie da eben: Weihnachten hat keine Bedeutung mehr? Da irren sie sich. Meine Frau und ich sind gläubige Christen und wir feiern Weihnachten mit unseren Kindern im Gedenken an die Geburt des Heilands!“
„Und was machen Sie dann hier im Hotel? Entschuldigen Sie, dass ich Sie das so direkt frage, denn das geht mich eigentlich gar nichts an!“ In Ihrem Gesicht spiegelte sich ein kleines Erschrecken über Ihre Bemerkung wider.
„Sie dürfen das gerne wissen“, antwortete er mit ruhiger Stimme. „ Ich wollte heute Mittag eigentlich nach München fliegen, um mit meiner Familie HeiligAbend zu feiern, aber durch eine lange Besprechung mit meinen Auftraggebern habe ich den Flieger verpasst. Und die Abendmaschine ist restlos ausgebucht. Es wollen offensichtlich viele Menschen Weihnachten zuhause verbringen. Nun kann ich erst morgen Früh abfliegen.“
Die junge Dame sah ihn mitfühlend an. „Das tut mir sehr leid für sie. Sie haben sich sicher auf zuhause gefreut, nicht wahr? Und nun muss Ihre Familie ohne Sie diesen besonderen Abend verbringen!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „ ich heiße übrigens Lydia Leiras.  Und entschuldigen sie bitte, dass ich Ihnen mit meinen Fragen aufdringlich vorkommen muss!“
„Das tun Sie nicht! „Mein Name ist übrigens Jens Ravenhorst, ich bin Architekt und habe mit dem hiesigen Großbauprojekt zu tun, das unter Zeitdruck steht. Deshalb die heutige Besprechung, die länger als geplant dauerte.“
Die junge Dame schwieg. Jens sah, dass es in ihrem Kopf arbeitete.
 „Da Sie sich nach dem Grund meines Hierseins an HeiligAbend in einem Hotel fern von der Familie erkundigt haben, erlauben Sie mir Sie zu fragen, warum Sie an diesem christlichen Gedenktag allein hier im Hotel sitzen? Haben Sie auch eine Familie oder einen Menschen, der auf Sie wartet?“
Lydia Leiras antwortete nicht gleich. Dann räusperte sie sich und erklärte Jens Ravenhorst, dass sie kein Zuhause wie er hätte und niemand auf sie wartete. Aber es täte ihr unendlich leid, dass er HeiligAbend ohne seine Familie allein verbringen müsse.
Mit diesen Worten griff sie nach ihrer Handtasche, die sie neben sich im Sessel platziert hatte, und holte einen länglichen Umschlag heraus, den sie Jens überreichte.
„Nehmen sie das bitte“, sagte sie in einem beschwörenden Tonfall, „im Umschlag befindet sich ein Flugticket für die Abendmaschine nach München. Wenn Sie sich demnächst auf den Weg machen, erreichen Sie die Maschine noch rechtzeitig!“
Jens Ravenhorst schaute sein weibliches Gegenüber erstaunt an: „Ihr Flugschein für die Maschine nach München? Das ist ja sehr nett von Ihnen, aber das kann ich nicht annehmen. Sie haben doch den Flug für sich gebucht, um heute Abend nach München zu fliegen. Da wartet doch bestimmt jemand auf Sie. Was anderes kann ich mir gar nicht vorstellen!“
In Lydia Leiras Gesicht zeigte sich das warme Lächeln, das er während ihrer Unterhaltung schon öfter an ihr bemerkt hatte. „Nein, auf mich wartet an HeiligAbend weder in München noch sonstwo irgend jemand auf mich. Machen Sie sich keine Sorgen um mich: ich fliege dann eben morgen früh.“
Jens Ravenhorst hatte sich nach längerem Zögern entschlossen, das für ihn unerwartete Geschenk doch anzunehmen, welchen Grund die junge Dame dafür auch haben mochte.
„Und was bin ich Ihnen für das Flugticket schuldig?“, fragte er sie.
„Nichts“, antwortete sie. „Betrachten Sie es als ein Weihnachtsgeschenk von jemand, der den Wunsch hat, dass Sie Weihnachten nach christlicher Tradition mit Ihrer Familie feiern können!“
Mit vielen Dankesbezeugungen verabschiedet sich Jens Ravenhorst von Lydia Leiras, nachdem er auch ihr ein besinnliches und erfülltes Weihnachten gewünscht hatte, wo immer ihr das begegnen würde.
„Ja das tut es bestimmt“, verabschiedete sie sich von ihm.
Als Jens Ravenhorst  im Flughafen am Checkin-Schalter der Fluglinie die Angestellte um eine Umbuchung des Tickets von Frau Lydia Leiras auf seinen Namen bat,  erlebte er eine Überraschung. Die Angesprochene, die das Ticket dem Umschlag entnommen hatte, schüttelte nämlich den Kopf: „Herr Ravenhorst, das Flugticket, das Sie mir überreicht haben, ist doch auf ihren Namen ausgestellt!“
Als er sie ungläubig anblickte, sagte sie: „da sehen Sie selbst!“
Und in der Tat, da stand sein Vor- und Zuname. Jens  wusste nicht, was er sagen sollte. Wie in Trance nahm er seine Bordkarte entgegen und strebte dem Warteraum zu. Wie konnte es sein, dass das Flugticket, das Lydia Leiras ihm geschenkt hatte, nicht auf ihren, sondern auf seinen Namen ausgestellt war, fragte er sich. War hier Zauberei im Gange? Oder gehörte Dame zu den Himmlischen Heerscharen, die zu Weihnachten Gutes tun wollten? Letzteres war aber unwahrscheinlich in Anbetracht der Begegnung mit Lydia Leiras im Hotel, die nichts überirdisches oder engelhaftes an sich hatte.
Jens lächelte bei diesem Gedanken und bestieg den Flieger, der ihn zu seiner Familie bringen würde, die er nach dem Einchecken über sein Smartphone von seiner überraschenden rechtzeitigen Ankunft an HeiligAbend verständigt und damit große Freude ausgelöst hatte.
Auch seine Familie, der er später von dem Geschenk des Flugtickets durch die ihm unbekannte junge Dame namens Lydia Leiras berichtete, konnte keine Erklärung für das Geschilderte finden.
Als Jens nach den Weihnachtsfeiertagen an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte und wieder im selben Hotel Quartier bezog, fragte er den Empfangschef an der Rezeption nach einer Frau namens Lydia Leiras, die er an HeiligAbend in der Lounge getroffen hätte. Aber eine Dame dieses Namens  hatte dort kein Zimmer gebucht gehabt, erhielt er als Auskunft. Und in der Lounge war an HeiligAbend auch keine Dame anwesend gewesen, daran hätte er sich erinnert. Nach seinen Beobachtungen habe er, Herr Ravenhorst, bis zu seiner Abreise Zeitung lesend allein in der Lounge gesessen.
Trotz intensiven Nachdenkens fand Jens Ravenhorst keine Erklärung für sein Erlebnis. Dabei hätte er nur die Buchstaben des Nachnamens „Leiras“ in die richtige Reihenfolge bringen müssen.
Denn rückwärts gelesen wird aus Leiras der Name des Erzengels Sariel.
ENDE

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