Freitag, 3. April 2015

Brasilianische Gedanken zur Karwoche

von Reinhard Lackinger

José Ribeiro Mascarenhas schält sich umständlich in den gelben Saal des
Museu de Arte Moderna, schließt verlegen die Tür hinter sich.
Zwölf Literaten, die zwischen 18:45 h und 19:20 mehr oder weniger
pünktlich zur üblichen 18:00 Uhr Versammlung eingetroffen waren, sitzen
im Kreis. Sie sprechen über die Bildungsreise, von der sie vor wenigen
Tagen zurückgekehrt sind.

Valéria Fraga Albuquerque erzählt von all dem Schönen, das sie während
der Exkursion durch Europa zu Gesicht bekommen hat. Das Vibrato ihrer
Stimme bezeugt die Gefühle, die die Architektur der Paläste, die
Kunstwerke, die Gemälde, die Fresken, die Gobelins, die Blumenuhren und
sauber gestutzten Büsche, aber auch die klassische Musik der
Konzertbesuche in ihr zurückgelassen haben.
Diejenigen, die nicht mit auf der Tour waren, hören staunend zu. Die
Reisegefährten nicken gedankenverloren.
Berenice Soares Perez trägt ein Gedicht vor, das sie nach dem Besuch im
Vatikan notiert hatte.
Gregório Maia quittiert die künstlerische Darbietung Berenices mit einem
Haiku aus Lissabon. Fernando Pessoa ist Gregórios Lieblingspoet.
João Borges de Matos, der "Reich-Ranicky" der Gruppe, lobt die guten
Texte, die ihm seine Reisegefährten zur Kritik anvertraut hatten.
José Costa e Silva, der Koordinator des Lateinamerika-Literaturgremiums
Salvador sitzt lächelnd da und freut sich.
Alle anderen, mit Ausnahme von Marineuza Souza dos Santos, werfen
zufriedene Blicke in die Runde.
Marineusa Souza dos Santos, eine der wenigen, die nicht mit auf der
Reise waren, fragt nach der Bewertung ihres Textes.
João Borges de Matos schweigt einen Augenblick. Es scheint, als denke er
über alle schönen Texte nach, die er während seiner großzügigen
Freizeit, aber auch im Arbeitszimmer des Senado Federal in Brasilia
lesen und bewerten durfte. Einer Aktivität, der er als gut bezahlter
Rentner weiterhin und in seiner Heimatstadt Salvador gerne nachkommt. Er
liebt das Loben guter Texte, aber auch das Verreissen und Verteufeln von
Schreibereien, die ihm nicht gefallen.

- Marineusa, dein Text ist wie immer furchtbar pamphletarisch, die ganze
Ausdrucksweise voll mit Begriffen, die in keinem Wörterbuch aufscheinen
und das Lokalkolorit zu duster. Ausserdem stimmt auch bei Grammatik und
Rechtschreibung vieles nicht! -, sagt er, sich zu Marineusa Souza dos
Santos wendend.
- Ich schreibe mit Herzblut -, sagt Marineusa.

Es folgt ein jähes Aufbrausen. Das Gesicht von João Borges de Matos
glüht vor Zorn und erbricht einen Redeschwall der den betreffenden Text
mit allen in ihm vorkommenden Unworten - wie Herzblut und Altruismus -
abkanzelt.
Die anderen Literanten schweigen betreten.
Marineusa Souza dos Santos beteuert und sagt, sie kenne das dürre,
dornenreiche Hinterland Nordostbrasiliens wie keiner der Anwesenden.
Das Leben der unsichtbaren Menschen ausserhalb des Herrenhauses und am
Rande gutbürgerlichen Gesellschaft müsse auch als Kultur gelten. Naive
Kunst sei auch notwendig! Besonders in Schwellenländern! Es wäre viel zu
still im Regenwald, hätte nur der Uirapurú die Erlaubnis zu singen -,
sagt Marineusa.

Marineusa Souza dos Santos ist in jener bitterarmen Region aufgewachsen,
ehe sie mit zwölf Jahren vom Besitzer des Landes in die Großstadt
gebracht wurde.
Daheim und im Inneren der aus Zweigen und Lehm erbauten Hütte konnte sie
und ihre zwölf Geschwister die einzelnen Bohnenkörner zählen, die am
Boden des verkohlten Kochtopf klebten. Bohnen und Maniokmehl. Fleisch
gab es nur wenn es ihnen gelang, eine Beutelratte, ein Gürteltier, eine
Schlange, eine Eidechse oder einen Vogel zu töten. Dreizehn hungrige
Augenpaare waren froh, wenn ein Mund weniger nach Essbarem begehrte.
Im Hause der Familie Nogueira in Salvador sollte sie ein besseres Leben
haben. Genug zum essen, jedenfalls. Frohen Mutes ließ sie sich für
zweitrangige Aufgaben einspannen. Für das Obachtgeben auf die kleinen
Kinder und das Zubereiten der Speisen. Sie lernte kochen, ehe sie
imstande war, ein "O" mit Hilfe eines Wasserglases zu zeichnen. Mit
vierzehn durfte sie zur Schule gehen. Mit fünfzehn wurde sie vom Dr.
Nogueira geschwängert Ein mit der Familie Nogueira befreundeter
Gynäkologe besorgte die Abtreibung. Der Versuch, in einem anderen Hause
unterzukommen scheiterte bald. So kam sie auf die Straße, nützte ihr
Talent: "Das Obachtgeben auf Kinder"! Diese waren inzwischen und im Nu
groß geworden und erwachsen. Einige davon konnten nicht nur ihre Väter
sein, sondern ihre Großväter. In der Schule wußte keiner wie sie ihr
Geld verdiente und daß sie eigentlich und genau genommen eine "Puta"
war. Mit siebenundzwanzig übernahm sie die Taverne, vor der sie
"Trottoir" machte. Jahre später lernte sie Vera Pazmandy kennen und
beide verwandelten die Kneipe in ein ungarisches Bistrot. Während des
Karnavals, der sich praktisch vor ihrer Tür abspielte, war sie
gezwungen, das Restaurant zu schließen. Sie nützte die Gelegenheit und
fuhr mit ihrer Partnerin in ihr heimatliches Hinterland. Es sollte ein
Besuch werden, um noch lebende Geschwister und Bekannte zu treffen. Dort
angekommen, fühlte sie sich jedoch fremder als einst und anfangs in der
Großstadt. Sie spürte Misstrauen und Ablehnung.
Ihre Reise führte weiter ins Blaue. So kamen sie in den Bundesstaat
Pernambuco und auch nach Brejo da Madre de Deus, wo seit Jahrzehnten im
riesigen Freilichttheater von Nova Jerusalem und in der Karwoche die
Passion, das Leiden Christi aufgeführt wird. Marineusa war die struppige
und staubige Umwelt rings um das Theatergelände bekannt. Die riesigen
Flächen, die Parkplätze für unzählige Omnibusse, die täglich vor Ostern
Abertausende und ein riesiges Publikum für die Paixão de Cristo
herankarrten, waren ihr jedoch genauso fremd und unverständlich wie
einst die Zuckerrohrplantagen der portugiesischen Kolonialherren den
Ureinwohnern Brasiliens.
Wieder im Geschäft, mußte Marineusa zusehen, wie der neue Bürgermeister
ihr liebliches Strandviertel umbaute und zu Gunsten einiger
Unterhaltungsbonzen in eine Karnavalspromenade verwandelte, die an die
permanenten Kulissengebäude von Nova Jerusalem erinnerten.
Aus ihrer Straße wurde eine Fußgängerzone. Keine Fahrzeuge, ausser jenen
Tiefladern, auf die Höllensoundmaschinen mit Bühnen für Musiker und
Sänger der Axé-Music montiert und "Trio Elétrico" genannt werden. Acht
Tage Karnaval für ewig Halbwüchsige, Parkplatzmangel für Bewohner und
Anrainer, sowie Verluste für die Geschäftsleute das ganze Jahr über. Es
gab kein entrinnen. Eventuelle Klientel die jahrein, jahraus ihre Straße
besuchte begnügte sich mit einer Pizza und einer Dose Bier.
"Wohin soll ich mich wenden", fragte sich Marnieusa. Vera hielt den
Druck nicht aus und kehrte wieder nach Europa zurück.
Irgendwann beschloß Marineusa Souza dos Santos ihre Lebensgeschichte zu
Papier zu bringen. In einer ihrer ersten Geschichten schrieb sie über
das Leiden Christi und die verschiedenen Inszenierungen des Themas in
Theater und Film.
Marineusa Souza dos Santos erzählte im Text von ihren eigenen seelischen
Wunden. Vom Verschwinden ihrer Stammkundschaft, die wegen fehlenden
Parkplätzen nicht mehr auftauchte; von potentiellen Gästen, die den
grölenden Pöbel, und die andauernde Unordnung im verschlechtbesserten
Viertel nicht tolerierte, nicht akzeptierte und deshalb fern blieb; von
den kulturlosen Touristen, die vor ihrer Speisekarte und vor ungarischen
Spezialitäten wie Marhapörkölt und Krumplipapriklás Reißaus nahmen und
in die nahe Pizzeria flohen. Sie beschrieb die Pein, zusehen zu müssen,
wie die Bürgerinitiative, anstatt ordentlich Druck auf die Politiker zu
machen, von der Stadtgemeinde kooptiert wurde. Mit grimmigen Worten gab
sie zu, wie leicht es dem "Herrenhaus" fiel, die "Sklavenhütte" für sich
zu gewinnen. Zu Lasten der Kritiker all dieser Verrücktheiten. Menschen,
die untätig zusehen mußten, wie einige wenige Schlitzohren die
anachronische Feudalherrschaft aufrecht hielten.
Marineusa Souza dos Santos berichtete, sie leide auch an den Dramaturgen
und Filmemachern, die mit dem Kreuzweg Christi in Theater und Kino
schweres Geld verdienten.
Sie wetterte gegen die übertriebenen physischen Schmerzen, gegen das
viel zu viele Blut des Heilands, das bei jenen Spektakeln vergossen und
"verpritschelt" wurde. Sie prangerte die Dummheit der Versuche an, die
seelische Pein Christi durch extreme fleischliche Wunden zu ersetzen und
zu kompensieren. Besonders bekrittelte sie das durch Hollywood und
Disney verblödete Volk, das mit moralischem Schmerz nichts anzufangen
wußte. Herzeleid sei für den rohen Pöbel tansparent. Da mußte eben
extreme Brutalität herhalten. In ihrem Unmut sprach sie sogar vom
Übereifer einiger Kirchenbesucher wie Carlos Charly Lerner do Rosário,
Irmã Helene und Senhora Uehbe O. Ferro, die beim Rosenkranz immer so
schön blökt. Diese besonders Frommen, die während der Wache von
Gründonnerstag auf Karfreitag am Ölberg, beziehungsweise in der Kirche
der Pfarre Nossa Senhora dos Desvalidos mit starren Augen da saßen und
nicht zu zwinkern wagten, während die Apostel neben Jesus mehr oder
weniger laut atmend bis röchelnd schlummerten.

- Ob Literatur Wirklichkeit braucht ist längst keine Frage mehr -, sagt
João Borges de Matos, die Gedanken Marineusas unterbrechend.
- Literatur schafft ihre eigene Realität. Ausserdem ist das Werkzeug der
Literatur weder die Harke, noch das Buschmesser, sondern die Feder -.

- Es geht mir um die weiterhin weltweit begangenen Ungerechtigkeiten,
die nach wie vor von guten, gut ernährten Erdenbürgern feierlichst
ignoriert werden. So lang diese die Nebensächlichkeiten ihrer
Komfortzone bewahren können, verzichten sie gerne auf das Wesentliche!
So ist es hier wie dort! In bunte Folien eingewickelte Schokoladeeier
für die Kleinen, sowie Garnelentorten, Kabeljau für den Karfreitag
überschatten die vierzehn Stationen des Kreuzwegs -, sagt Marineusa
Souza dos Santos, erhebt und verabschiedet sich, verläßt den Raum.

- Hat schon jemand die Ausstellung im Museu de Arte Sacra besucht? Es
werden portugiesische und brasilianische Gemälde und Kunstwerke aus drei
Jahrhunderten gezeigt, die das Leiden Jesu darstellen - .fragt Berenice
Soares Perez.
- Meine Frau hat beim neuen Delikatessenladen Thunfisch -, und
Shrimpssalat, sowie Kabeljaubällchen bestellt -, sagt José Ribeiro
Mascarenhas.
- Die machen das gut -, sagt Gregório Maia. - Wenn man bedenkt, wie
teuer die Fische und Meeresfrüchte jetzt zur Osterzeit sind, lohnt es
sich nicht mehr, zum Fischmarkt zu gehen. Da sind die fertigen Speisen
günstiger zu haben.-
- Wir verbringen die Osterfeiertage auf der Insel -, sagt João Borges de
Matos
- Wir fliegen morgen nach Miami -, sagt Paulo Venâncio Cavalcanti.

Das Thema Literatur war längst vergessen. Es ist wieder lustig am Hofe
des permanent regierenden Faschingskönigs von Salvador, Bahia, Brasilien.

Salvador, 30. März 2015

Reinhard Lackinger

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