Samstag, 1. März 2014

Sonntagstext - 02.03.2014


Die Spaghettiernte

Hans Bäck


Natürlich streiten sich alle möglichen Regionen Italiens um als Erfinder der Pasta und damit der Spaghetti zu gelten. Das behaupten die in Ligurien, die Neapolitaner, auch die Marken und die Toskana.

Sei es wie es sei, unbestritten ist aber der jährliche Event, das jährliche Großereignis schlechthin: die schweizerische Spaghettiernte.

Man fragt sich natürlich, warum gerade in der Schweiz, und da nicht einmal im Tessin, sondern im Jura die besten Spaghetti geerntet werden. Es ist unbestritten: Kein anderes Land in Europa wäre mehr geeignet, dieses Ereignis zu einem europaweiten Fest zu machen als die Schweiz. Vielleicht noch die Tiroler, die in etwa so geschäftstüchtig sind wie die Schweizer, aber die geografische und damit klimatische Struktur des Landes in den Alpen lässt das nicht zu. Vielleicht, wenn Südtirol bei Tirol geblieben wäre? Aber so ist es eben die Schweiz.

Wochen vor dem entscheidenden Tag brechen in ganz Europa die Erntehelfer auf, und in den letzten Tagen und in den letzten Tagen unmittelbar kommen auch die Gäste und Besucher in Scharen. Rund um La Chaux de Fonds ist kein Zimmer zu kriegen, ja, bis hinunter nach Neuchàtel sind freie Zimmer Mangelware. Die Erntearbeiter werden in einfachen Baracken untergebracht, in besonders starken Jahren hilft das Schweizer Militär mit Hochgebirgszelten aus.

Bei der Ernte der Spaghetti geht es um Stunden! Die ersten werden zu Beginn der Erntewoche in aller Früh, beim Morgentau geerntet. Das sind die ganz zarten, die aber noch nicht die volle Länge erreicht haben, aber von Feinschmeckern in aller Welt bevorzugt werden. Das ist fast so ein Kult wie mit dem Extra Vergine Olivenöl aus allererster Pressung (am besten noch, bevor überhaupt gepresst wurde). Diese ersten Spaghetti erhalten auch ein eigenes Zertifikat, in dem die Eidgenössische Lebensmittel- und Landwirtschaftsanstalt die Originalität des Produktes bestätigt. In den nächsten Tagen werden die geernteten Spaghetti immer länger und breiter. Sie nehmen auch an Stärke zu, bis hin zum Ende der Spaghettikampagne die ganz dicken Makkaroni, Fetuccine und Cannelloni dran kommen. Aber bis dahin ist es noch Zeit, die Kampagne beginnt ja erst. Am Vorabend des ersten Erntetages läuten in la Chaux de Fonds, in Le Locle und vor allem in Les Planchettes sämtliche Glocken, die Sirenen der Feuerwehrhäuser und der Schweizerischen Miliz heulen Minuten lang auf. Die Straße über den Col du Roches wird gesperrt, und ein riesiges Leuchtfeuer signalisiert auch den Franzosen jenseits der Grenze, es ist wieder soweit!

Nun können die Nächte im Jura rund um den Namenstag des Hl. Hugo noch empfindlich frisch sein. Jedoch die Erntearbeiter müssen um 4h morgens hinaus, denn nur solange die Spaghetti vom Tau befeuchtet sind, lassen sie sich ohne größere Verluste schneiden. Es ist wichtig, dass sie knapp über dem Boden abgeschnitten werden, denn in den bodennahen Teilen sind die besten Nährstoffe enthalten. Das ist auch leicht in einer Packung zu erkennen: Wenn die Spaghetti an einem Ende nur kaum sichtbar stärker sind, dann wurden sie ordnungsgemäß geschnitten. Vorsichtig bringen die Erntearbeiter die ersten Körbe zu den Sammelstellen. Es ist fast wie die Weinlese im Burgenland, wo auch die Körbe mit den gelesenen Trauben in große Bottiche geleert werden. Nur hier wird nichts geleert. Sondern ganz sorgfältig wird Büschel um Büschel herausgehoben, vom Entemeister wird persönlich jede Handvoll geprüft und dann in die Sammelboxen gelegt. Dabei wird genau unterschieden zwischen erster, zweiter und dritter Wahl. Und wenn dann am Vormittag des ersten Erntetages die Fuhren mit der frischen Ernte nach La Chaux des Fonds fahren und am Hauptplatz eintreffen, dann beginnen die Festveranstaltungen für die Gäste. Die Erntearbeiter sind natürlich draußen auf den Feldern, denn sie müssen bis zum Abend durchhalten. Denn ab der Mittagszeit werden die Spaghetti für den industriellen Bedarf geerntet. Und da geht es nicht mehr um Aussehen und Qualität, da geht es nur mehr um Menge. Da müssen die Tonnen für den weltweiten Bedarf an Spaghetti abgearbeitet werden. Ohne Pause arbeiten die Helfer aus allen Ländern Europas und die Immigranten aus dem Maghreb durch, um das Plansoll zu erreichen. Es ist beinharter Akkord, der die Menschen dort antreibt, die einzige Pause wird ihnen erlaubt, wenn sie ihre Schneidwerkzeuge austauschen müssen. Aber auch das funktioniert mit Schweizer Präzision: Der Arbeiter hebt seine Hand auf und in wenigen Augenblicken ist der Aufseher mit dem Ersatzschweizermesser da, und es geht schon wieder weiter: Bücken, mit der linken Hand das Bündel umfassen, abschneiden, aufrichten und in den Behälter legen, und das von 4 Uhr früh bis zum Abend gegen 18 Uhr. Dann erst dürfen die Menschen von den Feldern in ihre Quartiere zurückkehren. Dort bekommen sie eine Pasta, zubereitet aus jenen Spaghetti, die trotz aller Vorsicht und Achtsamkeit zu Bruch gegangen sind. Und während dessen startet in der Stadt das große Fest. Bis zum Ende der Kampagne jagt eine Veranstaltung die andere: Aus dem Appenzellerland kommen die Jodler, die ihre Münzen im Teller kreisen lassen, aus Graubünden die Alphornbläser, aus dem Kanton Bern die Bergführer um mit ihrer Ausrüstung Vorführungen zu machen, die Air Zermatt führt spektakuläre Hubschrauberbergungen durch, wobei die typische Frage der Zermatter Flugretter an ihre vermeintlichen Opfer „Habet Sie Ihre Creditkarte dabei?“ in 8 Sprachen (inclusive russisch und japanisch) wiederholt wird. Aus dem Wallis kommen Weinbauern um ihren Fendant vorzustellen und für das Gläschen (ein Probierglas mit 1/16 Liter Inhalt) 5 Franken verlangen. Die Banken aus dem Kanton Zürich haben mobile Beratungsstellen eingerichtet und nehmen sich für einen Interessenten auch dann Zeit, wenn dieser nur eine lächerliche Million veranlagen will. Getreu dem Schweizer Grundsatz, „Reden wir über das Geld, auch Armut ist keine Schande“ nehmen sie auch Beträge ab CHF 500 000,- zur Veranlagung an. Für die 10 Tage der Spaghettikampagne ist in La Chaux des Fonds die gesamte Schweiz vertreten, um den Besuchern aus aller Welt die Schweiz in all ihren Facetten zu präsentieren.

Wenn wundert es, dass die Tiroler schon längst neidig geworden sind und an der Züchtung von klimaresistenten Sortern arbeiten? Der berühmte Volkskundler Prof. Hans Haid wettert zwar unermüdlich dagegen und meint, das wäre keine arttypische Produktion in den Bergen und er meinte in einem Radiointerview, die Ötztaler Wirte sollten einmal ein richtiges Tirolergröstl auf den Tisch bringen, das diese Bezeichnung auch verdient und nicht immer alle Essensreste darin verarbeiten und dann noch einen Preis jenseits von € 15 dafür zu verlangen. Das wäre der Ausverkauf der Heimat meinte er, aber wie immer steht dieser Mahner auf verlorenem Posten. Wie vor kurzen im „Tiroler Landboten“ nachzulesen war, gibt es erste Ergebnisse mit einer ganz speziellen Sorte, diese wurde sofort EU-weit geschützt (eingetragenes Regionales Herkunftszeichen) und es ist zu erwarten, dass spätestens am 1. April nächsten Jahres die ersten „Spaghetti Originali Tirolesi“ auf die Märkte kommen werden.

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